Einführung
Nach nahezu 40 Jahren wird die bisherige EU-Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG durch die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie (EU) 2024/2853 abgelöst. Diese wurde am 18.11.2024 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und tritt am 09.12.2024 in Kraft.
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie muss binnen zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden, d.h. bis zum 09. Dezember 2026.
Neuregelungen
1. Haftungssubjekte – betroffene Wirtschaftsakteure
Nach neuem Recht bleibt es bei der vorrangigen Haftung des Herstellers oder Quasi-Herstellers. Hersteller ist künftig auch derjenige, der ein Produkt außerhalb der Kontrolle und Verantwortung des ursprünglichen Herstellers wesentlich verändert und anschließend auf dem Markt bereitstellt.
Hat der Hersteller seinen Sitz außerhalb der EU, soll nach der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie der Importeur mit Sitz in der EU haften, der das Produkt in die EU einführt, alternativ der EU-Bevollmächtigte des Herstellers oder subsidiär zu diesen beiden der Fulfillment-Dienstleister.
Auf dritter Stufe haften alternativ der Lieferant oder der Anbieter einer Online-Plattform.
2. Ausweitung des Produktbegriffes
Ein Produkt ist künftig auch jede bewegliche Sache, wenn diese in eine andere bewegliche oder auch unbewegliche Sache integriert oder damit verbunden wird. Ferner fallen darunter künftig die Elektrizität, digitale Konstruktionsunterlagen zur Herstellung eines körperlichen Gegenstandes, Rohstoffe, die in ein Produkt integriert werden sind und Software. Ausgenommen ist lediglich frei zugängliche Open-Source-Software.
3. Ausweitung des Fehlerbegriffes
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie erweitert den bestehenden Fehlerbegriff:
– um Auswirkungen der Fähigkeit des Produktes nach Inverkehrbringung oder Inbetriebnahme weiter zu lernen oder neue Funktionen zu erwerben,
– um Risiken aus der Wechselwirkung mit anderen Produkten,
– die einschlägigen Anforderungen der Produktsicherheit einschließlich sicherheitsrelevanter Cybersicherheitsanforderungen,
– auf Produktrückrufe und andere Eingriffe bzw. Anordnungen der nach Produktsicherheitsrecht zuständigen Marktaufsicht
4. Erweiterung des Schadensbegriffes
Das neue Recht stellt klar, dass medizinisch anerkannte Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit als Personenschäden einzuordnen sind.
Hinzu kommt die Erfassung von Schäden durch die Vernichtung oder Verfälschung von Daten, die nicht für berufliche Zwecke verwendet werden.
5. Entfall von Haftungsbeschränkungen
Künftig wird es nach der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie keinen Haftungshöchstbetrag, keinen Selbstbehalt und auch keinen Haftungsausschluss bei Inverkehrbringen außerhalb der beruflichen Tätigkeit geben.
Art. 11 der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie führt eine Liste einzelner Haftungsausschlüsse an.
6. Prozessuale Neuerungen
Die EU-Produkthaftungsrichtlinie sieht für den Zivilprozess zwei Besonderheiten vor, die sehr wahrscheinlich dazu beitragen werden, dass dem Produkthaftungsrecht künftig deutlich mehr Bedeutung beizumessen ist.
6.1 Offenlegung von Beweismitteln („disclosure of evidence“)
In bestimmten Fällen müssen die Beklagten auf Antrag der Kläger, die in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen relevanten Beweismittel vorlegen, soweit dies erforderlich und verhältnismäßig ist.
6.2 Beweiserleichterungen
Kommt der Anspruchsgegner seinen Offenlegungspflichten nicht nach, wird die Fehlerhaftigkeit des Produktes vermutet.
Ein Fehler wird auch schon vermutet, wenn das Produkt verbindlichen Anforderungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts an die Produktsicherheit nicht entspricht, die vor dem Risiko eben jener Schädigung schützen sollten, die die geschädigte Person erlitten hat.
Zudem wird die Kausalität zwischen Fehlerhaftigkeit und Schaden vermutet, wenn die Fehlerhaftigkeit eines Produktes festgestellt wird und der Schaden fehlertypisch ist.
7. Fazit
Das europäische Produkthaftungsrecht wird künftig noch stärker an das europäische Produktsicherheitsrecht angepasst.
Die Offenlegungspflicht für die Beklagten und die Beweiserleichterungen für Kläger werden die Erfolgsaussichten in Haftungsprozessen nachhaltig zu Gunsten der Kläger beeinflussen. Sie kommen praktisch gesehen einer Beweislastumkehr gleich.
Es ist allen Unternehmen schon jetzt dringend anzuraten, die künftigen Erweiterungen der Pflichten, Verantwortlichkeiten und Haftungsrisiken für die eigenen unternehmerischen Prozesse und Vereinbarungen zu berücksichtigen.